Baudelaire: Spleen 2


Die Last der Erinnerung - Baudelaires Spleen 2

von Frank Freimuth


Spleen

J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans.

Un gros meuble à tiroirs encombré de bilans,
De vers, de billets doux, de procès, de romances,
Avec de lourds cheveux roulés dans des quittances,
Cache moins de secrets que mon triste cerveau.
C'est une pyramide, un immense caveau,
Qui contient plus de morts que la fosse commune.
- Je suis un cimetière abhorré de la lune,
Où comme des remords se traînent de longs vers
Qui s'acharnent toujours sur mes morts les plus chers.
Je suis un vieux boudoir plein de roses fanées,
Où gît tout un fouillis de modes surannées,
Où les pastels plaintifs et les pâles Boucher
Seuls, respirent l'odeur d'un flacon débouché.

Rien n'égale en longueur les boiteuses journées,
Quand sous les lourds flocons des neigeuses années
L'ennui, fruit de la morne incuriosité,
Prend les proportions de l'immortalité.
- Désormais tu n'es plus, ô matière vivante!
Qu'un granit entouré d'une vague épouvante,
Assoupi dans le fond d'un Sahara brumeux;
Un vieux sphinx ignoré du monde insoucieux,
Oublié sur la carte, et dont l'humeur farouche
Ne chante qu'aux rayons du soleil qui se couche.


Spleen ist das zweite von vier gleichnamigen Ge­dichten, die im Teil Spleen et Idéal der Fleurs du Mal unmittelbar aufeinander folgen. Das Wort "Spleen", heute fast gänzlich aus dem Fran­zösischen entschwunden, kommt aus dem Englischen und bezeichnet dort die Milz, also ein Organ des menschlichen Körpers. Zusätzlich besitzt es die Bedeutung "Wut". In die französi­sche Sprache fand es schon kurz vor der Zeit Baudelaires Eingang, erlangte aber erst zu dessen Lebzeiten größere Bedeutung. Es bezeichnete eine besondere Art von Niedergeschlagenheit, die vorwiegend im menschenfeindlichen sozialen Klima moderner, von der Industrialisierung gezeichneter Städte auftrat, einem Klima, das häufig Quelle von Depression und Freitod war. Für Baudelaire-Übersetzer stellt das Wort "Spleen", ähnlich wie der "Ennui", eine Heraus­for­derung dar, da es keine direkte deutsche Entsprechung gibt, welche die darin mitschwingende Kombination aus persönlicher Disposition und äußeren Einflüssen ausdrückt. Wörter wie "Schwermut", "Trübsinn" und "Niedergeschlagenheit" sind zwar mit einer Kombination inne­rer und äußerer Einwirkungen vereinbar, drücken den äußeren Einfluss aber nicht explizit aus. Manche Übersetzer entziehen sich dem Dilemma, indem sie "Spleen" auch in der Übersetzung verwenden. Das Problem dabei ist, dass wir Deutsche das Wort zwar ebenfalls in unsere Spra­che aufgenommen haben, aber in einer ganz anderen Bedeutung. Bei uns steht es für ein überspanntes, schrulliges oder verschrobenes Wesen.

Von den vier Spleen-Gedichten besitzt Spleen 2 die ungewöhnlichste Form: vierundzwanzig durch Paarreime verbundene Zeilen, welche in drei Strophen gegliedert sind, von denen die erste nur eine einzige Zeile umfasst, nämlich

J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans,

zu deutsch "ich habe mehr Erinnerungen, als wenn ich tausend Jahre alt wäre". Durch diese Heraushebung wird die erste Strophe zu einem Untertitel, der das Problem wie eine Schlag­zeile hinausschreit: Der Poet leidet an seinen Erinne­rungen. Er hat, wie er glaubt, zu viele davon.

Die zweite Strophe umfasst die Zeilen 2 bis 14, sie ist durch einen Bindestrich in der Mitte noch einmal unterteilt. Im ihrem ersten Teil vergleicht der Poet sein Gehirn mit einer großen Kom­mode, deren Schubladen mit den unterschiedlichsten Dingen vollgestopft sind. Sein Gehirn, so der Poet, enthalte noch mehr Geheimnisse als eine solche Kommode. Eher sei es eine Pyra­mide, eine gewaltige Höhle, in der sich mehr Tote als im städtischen Friedhof befänden. Mit anderen Worten: der Poet trägt immens viele Erinnerungen in sich, und sehr viele davon sind, wie deren Gleichsetzung mit den Toten nahelegt, bedrückend und belastend.

Nach dem Bindestrich wechselt der Poet ins Ich und beschreibt sich selbst in zwei Metaphern. In der ersten setzt er sich einem Friedhof gleich, den selbst der Mond verabscheut, der, wie wir wissen, als Symbol der Wandlung und des Wachstums gilt:

- Je suis un cimetière abhorré de la lune,
Où comme des remords se traînent de longs vers
Qui s'acharnent toujours sur mes morts les plus chers.

Das Wort "vers" hat mehrere Bedeutungen. Zum einen ist es der Plural von "ver" (Wurm), zum anderen bezeichnet es ein Gedicht oder die Zeile eines Gedichts. Diese Ambivalenz des Worts gibt auch der gesamten Aussage zwei Bedeutungen. Nicht nur nagen Würmer wie Gewissens­bisse an den liebsten "Toten" des Poeten, also seinen liebsten Erinnerungen, sondern es drehen sich auch seine Verse ständig um sie.

Die Metapherlawine hat sich damit noch nicht erschöpft. Gleich nach Identifikation des Poe­ten mit einem Friedhof folgt noch eine weitere, diesmal mit einem Boudoir:

Je suis un vieux boudoir plein de roses fanées,
Où gît tout un fouillis de modes surannées,
Où les pastels plaintifs et les pâles Boucher
Seuls, respirent l'odeur d'un flacon débouché.

Es geht nun also um die Frauen des Poeten! Boudoirs waren elegante Zimmerchen, die den Damen der Gesellschaft vorbehalten waren und in denen sie geschützt ihren fraulichen Belan­gen nachgehen konnten. Der Poet fühlt sich wie ein solches Boudoir, allerdings ein längst ver­lassenes, in dem nur noch welke Rosen, nicht mehr getragene Kleider, geöffnete Parfüm­flaschen und blasse Bilder des aus der Mode gekommenen Malers François Boucher an die Frauen erinnern, die sich einst darin aufhielten. Mit anderen Worten: die Frauen haben den Poeten verlassen, aber die Erinnerungen an sie sind ihm geblieben.

Wenn die zweite Strophe die Art der Erinnerungen beschreibt und wie sie den Poeten be­lasten, zeigt die dritte Strophe (Zeilen 15 bis 24) die Konsequenzen auf, welche diese Erinne­rungen auf seine Verfassung und sein Tun haben. Auch diese Strophe ist durch einen Binde­strich geteilt. Im ersten Teil beschreibt der Poet, wie sich im Ver­lauf der überlang erscheinen­den, "hinkenden" Tage der schneereichen Jahre in ihm Teilnahmslosigkeit und mürri­sche Stimmungen aufbauen. Schnee, der schwer auf den Dächern lastet, dient als Metapher für die Last der Erinnerungen. Der Poet verfällt vollends dem Ennui, jener besonderen, von Frust, Verdruss und Trübsinn geprägten dauerhaften Langeweile. Der Ennui, so erfahren wir nach dem Bindestrich, lässt die "lebende Materie" des Poeten versteinern und verwandelt sie in eine Sphinx, die isoliert und unbeachtet von der unbeschwerten Umwelt in einer von Dunst erfüllten Wüste steht. Eine Sphinx, die, so der Poet, nur in den Strahlen der untergehenden Sonne in wilder Stimmung ihren Gesang vernehmen lässt. Den Untergang der Sonne können wir als Metapher für das Schwinden der Lebenskraft deuten, so dass sich als Konsequenz ergibt: dem Poeten bleibt nichts, als den Niedergang der Lebenskraft zu besingen, und er tut dies weitgehend ungehört.

Die Frage, welche Rolle die Erinnerungen im Leben der Menschen spielen, hat schon viele Denker beschäftigt, darunter Platon, Augustinus und Schopenhauer. Fast immer lag der Schwerpunkt der Betrachtung auf den segensreichen Aspekten des Gedächtnisses. Baude­laires Poet dagegen sieht ausschließlich die lebenskraftvernichtende Kraft der Erinnerung. Er wägt nicht positive und negative Seiten ab. Dies ist kein Mangel, denn die positiven Seiten sind den meisten Lesern seit jeher mehr bewusst und sie waren es besonders den Zeitgenossen Baudelaires, die der Geschichte eine besondere Bedeutung beimaßen. Die einseitige Betrach­tung, die Überspitzung bis zur Verzerrung und die Verfremdung sind Lieblingstechniken Baudelaires. Sie sollen die Leserschaft aufrütteln und schockieren.

Kurz nach Baudelaire hat auch Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) sich in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen des Themas angenommen. Er sah, ähnlich Baudelaires Poet, im Vergessen­können eine Voraussetzung für das Leben.


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