Countee Cullen: Heritage


Countee Cullens »Heritage« neu betrachtet

von Frank Freimuth

Countee Cullen (1903 - 1946) gilt, neben Langston Hughes und Claude McKay, als einer der bedeu­tend­sten Dichter der Harlem-Renaissance. Die Harlem-Renaissance, damals "New Negro Renais­sance" genannt, war eine Blütezeit der afro-amerikanischen Kultur zwischen den beiden Weltkriegen, deren Zentrum der New Yorker Stadtteil Harlem war. Intellektuelle, wie der Philosophieprofessor Alain Locke, die sich als Mentoren und Herausgeber von Publikationen betätigten, machten aus der kultu­rellen Blüte eine Bewegung. Die 1925 von Locke herausgegeben Anthologie "The New Negro" war gleich­zeitig Flaggschiff und Namensgeber dieser Bewegung.

Es war das Bestreben der Dichter um Alain Locke, nicht nur Werke zu schaffen, die jenen der weißen Poeten mindestens ebenbürtig waren, sondern auch dem "neuen Neger" zur Reife zu verhelfen. Der "alte Neger", das war ein durch Jahrhunderte der Sklaverei und Unterdrückung zurückgesetzter Schwar­zer, einer, dem man nichts zutraute, ein unselbstständiger mit schwachem Selbstbewusstsein. Der "neue Neger" sollte ebenso gebildet, kultiviert und selbstbewusst sein wie die Weißen, aber er sollte eine eigene kulturelle Identität besitzen, die ihn von den Weißen unterschied. Da Identität immer auch auf der Vergangenheit beruht, waren die Dichter aus Harlem bestrebt, die Vergangenheit der schwar­zen Bevölkerung für sich zu erschließen. Langston Hughes bereiste den Süden der USA, um die Spirituals und die Sprache der Landbevölkerung zu erkunden, andere, wie Countee Cullen, dachten über die Be­deu­tung ihrer afrikanischen Herkunft für ihr Wesen und ihre Stellung in der Gesellschaft nach.

In diesem Zusammenhang ist das Gedicht »Heritage« zu sehen. Es ist ein genialisches Langgedicht in sieben Strophen, das von vielen als Cullens Meisterwerk angesehen wird. Es wurde zuerst in seinem ersten Album »Color« veröffentlicht. Kurz darauf übernahm Locke es in stark veränderter Fassung in seine Anthologie. Ob Cullen vorher von diesen Änderungen wusste und ob er damit einverstanden war, ist nicht bekannt. In die von ihm selbst zusammengestellte Sammlung »On These I Stand« seiner besten Gedichte (1947) übernahm er die ursprüngliche Fassung aus »Color«. Sie ist deshalb auch die Basis der folgenden Ausführungen und der darin präsentierten Übersetzung des Autors.

Im Versmaß (vierfüßiger Trochäus) ähnelt »Heritage« William Blakes »Tyger«. Ebenfalls an »Tyger« erinnern die Paarreime und eine Passage, die in einer späteren Strophe als Refrain wiederkehrt. Es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten. Hierzu weiter unten. Die Übersetzung des Autors ins Deutsche bewahrt das Versmaß vollständig und die paarweisen Reime nahezu durchgängig. Sie sei zunächst präsentiert. Danach gehen wir das Gedicht Strophe für Strophe durch und versuchen abschließend, zu einer Deu­tung zu gelangen.

Erbe

Was kann Afrika mir sein:
Kupfersonne, Meer wie Wein,
Stern des Dschungels, Dschungelpfade,
Bronzemänner, prächtig schwarze
Frauen, denen wir entsprangen,
als in Eden Vögel sangen?
Drei Jahrhunderte entlegen
was den Ahnen Glück gegeben,
Baum des Zimts, der Duft im Hain,
was kann Afrika mir sein?

Liegend harr ich, tageslang
wünsch ich nichts als den Gesang
gnadenloser wilder Vögel,
treibend große Dschungelherden,
Fleischkolosse, die fürbass
trampeln durch das spröde Gras,
dort, wo Liebespaare liegen,
Treue sich im Schwur besiegeln.
Liegend harre ich, muss hören
große Trommeln weithin dröhnen,
trotz der Daumen, die die Ohren
pressen und sich in sie bohren.
Liegend harre ich, dem Freude,
Stolz und Sorge um die Meute
quillt aus Dunklem, Fleisch und Haut,
dort wo dunkles Blut, gestaut,
so wie Wein, in mir pulsierend,
droht, so fürchte ich, zu sprengen
feine Maschen in dem Netz
durch sein Branden, Schäumen, Drängen.

Afrika? Ein Buch zu blättern
lustlos, bis der Schlummer kommt.
Fledermäuse, aus dem Sinnen,
kreisend einst mit dunklen Schwingen,
Katzen, tief im Schilfe kauernd
nahrhaft-weiches Fleisch belauernd,
wo die Wasser Land umspülen;
aus das horngetönte Brüllen,
kündend von der Klauen Prangen,
wenn sie aus den Scheiden sprangen.
Schlangen, lassend Jahr für Jahr
Kleidung, welche Hülle war;
Kusche nicht, weil dir gewahr
Augen nähmen dich in Schein;
Kann die Blöße wichtig sein?
Fleckenblumen recken nicht
wilde Kronen in die Sicht,
Keine Leiber, feucht und glatt,
treten schwitzend, regensatt,
wilde Takte, wie sie spielen
Dschungelpaare, die sich lieben.
Alter Schnee, was kann er sein?
altes irgendwas? Der Baum,
jährlich knospend, muss vergessen
wie er wurde, hat besessen -
Äste, Triebe, Blüten, Frucht,
selbst den Vogel, scheu und still,
staunend über den Betrieb,
der im Schopfe sanft geschieht.
Drei Jahrhunderte entlegen
was den Ahnen Glück gegeben,
Baum des Zimts, der Duft im Hain,
was kann Afrika mir sein?

Liegend harr ich, ruhelos,
Nacht wie Tag, ich höre bloß
Trommeln ohne Unterlass
grober Füße ohne Maß
auf dem Weg durch meinen Leib.
Auf und ab und wieder auf
durch den Dschungel führt der Lauf.
Liegend harr ich, der zur Nacht
Regen immer nur durchwacht -
kann die Ruhe nicht gewinnen,
wenn die Fluten niederrinnen;
Schmerzgeplagt, verfolgt von Geistern,
muss ich seinen Nachhall meistern;
mache mich im Drehen krumm,
leidend wie ein Köderwurm,
während Takte auf dem Steg
durch den Körper, schreien: "Weg!
Weg mit neuem Firlefanz,
komm und tanz den Liebestanz!"
Altbekannt ist, wie der Regen
tags und nächtens prägt mein Leben.

Götter, die Befremden wecken ,
schwarzer Männer Brauch aus Stecken,
Ton und spröden, kleinen Steinen,
die wie Konterfeis erscheinen,
Wandelmut kam mir sehr teuer;
Jesus Christ nur nährt mein Feuer,
Prediger der Folgsamkeit;
Weg mit Heidengöttlichkeit!

Vater, Sohn und Heiliggeist,
kraftlos, der ihn derart preist;
Jesus mit der zweiten Wange,
Gottes Lamm, obwohl mein Mund
macht dies kund, so gibt es zwei
Rollen für mein Herz dabei.
Immer, wenn dein Schrein mir prangt,
schwankt mein Herz, wird schwach und krankt,
wünschte dir ein Schwarzgesicht,
denkend dann, es fehlte nicht
Schmerzenskenntnis es zu führen,
solle sich, wer will, mokieren;
sicher wüsste dann mein Leib:
deiner litt dasselbe Leid.
Herr, auch schwarz kann Gott mir sein,
lasse selbst dir angedeihen
trostlos dunkle Züge, wo,
unter Haaren starr wie Stroh,
Menschengram nur Duldung bindet,
Ärger aber, heiß, sich findet,
Wangen nach dem Schlag erhitzt,
Zorn in müden Augen blitzt.
Herr vergib, wenn Menschennöte
Einfluss nehmen auf Gebete.

Tageslang und durch die Nacht
hab ich nur ein Ziel der Acht:
Stolz zu kühlen und das Blut,
sonst erläge ich der Flut,
ließe Glut, die tot erscheint,
Wald, den fälschlich nass man meint,
brennen so wie trocknen Flachs,
schmelzen wie ein simples Wachs,
ließe Tote auferstehen.
Weit entfernt es einzusehen
leugnen Herz und Kopf noch blind,
dass sie und ich nicht Wilde sind.

Es geht in »Heritage« um die Frage, ob die afrikanische Herkunft eine Bedeutung für den Sprecher des Gedichts haben kann, also für einen Schwarzen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, dessen Vor­fahren vor langer Zeit nach Amerika kamen und der Afrika nicht einmal persönlich kennt. Die erste Stro­phe von insgesamt sieben ist ganz der Fragestellung gewidmet. Die Frage wird kurz und bündig in der ersten Zeile gestellt und in der letzten wiederholt. Dazwischen werden in wenigen Zeilen eine The­se und eine Gegenthese präsentiert: Die These lautet, etwas vereinfacht: beeindruckend ist es, die­ses Afrika, und meine Vorfahren kamen von dort. Dies muss doch einen Einfluss auf mich haben. Da­ge­gen steht: Das ist doch schon so lange her. Kann etwas wichtig für mich sein, das so lange zurück liegt und das ich nicht einmal selbst kenne?

In der zweiten Strophe berichtet der Sprecher, dass Afrika tatsächlich in ganz massiver Weise auf ihn wirkt. Sie besteht aus drei langen Sätzen, von denen jeder mit den Worten "Liegend harr ich" beginnt. Es wird so der Eindruck vermittelt, der Sprecher erlebe eine schlaflose Nacht, in der ihn die Gedanken an Afrika plagen. Dies geschieht gleich auf drei verschiedene Arten: Erstens als Gesang barbarischer Vögel, welcher den Durchzug von Dschungelherden begleitet, während gleichzeitig junge Liebende im Gras liegen, zweitens als ständiges Trommeln, gegen das auch ein Zuhalten der Ohren nichts nützt, drittens als Flut seines eigenen dunklen Bluts durch seinen Körper, welche ein bereits aufgescheuertes Netz zu sprengen droht. Woraus dieses Netz besteht und was sein Zweck ist, sagt der Sprecher nicht explizit. Eine naheliegende Annahme ist, dass es dich um das Netz der Konventionen und Normen der Gesellschaft handelt, in der er lebt.

Das englische Original enthält eine Ambivalenz, die in der Übersetzung nicht wiedergegeben werden kann. Sie beruht auf der Zweideutigkeit des Wortes "lie", das sowohl "liegen" als auch "lügen" bedeu­ten kann. Zwar legt der direkte Kontext, insbesondere auch in der vierten Strophe, eindeutig nahe, mit "liegen" zu übersetzen, aber es ist nicht auszuschließen, dass der Dichter im Leser eine Assoziation zum "Lügen" hervorrufen wollte. Doch hierzu später.

Wenn die zweite Strophe die Unterstützung der These darstellt, so ist die dritte, zumindest auf den ersten Blick, die Unterstützung der Gegenthese. Der Sprecher verneint den Einfluss Afrikas, oder vielmehr, er redet ihn klein. Im ersten Satz der Strophe wird Afrika mit einem Buch verglichen, das man lustlos vor dem Einschlafen durchblättert. Auch im weiteren Verlauf der Strophe sind immer wieder Bemerkungen eingestreut, welche die Bedeutung des Geschilderten verneinen: es sei ver­ges­sen, nicht mehr vorhanden, Schnee von gestern. Aber die Schilderungen der herabgewürdigten Natur­gewalten geraten so plastisch und so kraftvoll, dass die Abwiegelung durch den Sprecher nicht glaub­würdig erscheint. Zumal deutlich sexuell motivierte Bilder auftauchen. Da sind zunächst die Schlan­gen als phallisches Symbol der Männlichkeit, welche nach Abwerfen ihres Kleids nackt erscheinen, und auch die jungen Dschungelpaare tauchen wieder auf, dieses Mal wilde Tänze mit feuchten Kör­pern vollführend. Mit anderen Worten: die Ablehnung der These erscheint halbherzig. Die Wieder­holung des Refrains am Ende der Strophe schließt diese Gegen­über­stellung der Thesen ab.

Die vierte Strophe bestärkt uns in der Vermutung, dass die Verneinung Afrikas durch den Sprecher nur halbherzig war. Denn nun wird von neuem beschrieben, wie sehr Afrika ihn plagt. Er benutzt hier­für zwei neue Bilder. Zuerst das der trommelnden Füße, die durch seinen Körper marschieren und da­bei einen Dschungelpfad austreten. Dann das Bild des Regens, eines unablässigen Regens wie in der afrikanischen Regenzeit, der ihn am Schlaf hindert und ihm zusetzt. Hinweise, wofür das Bild des Re­gens steht, bekommen wir am Ende der Strophe, wenn der Takt des Regens den sich wie ein Wurm Win­denden dazu drängt, all den neuen Firlefanz fallen zu lassen und den Liebestanz zu tanzen.

In der fünften Strophe werden neue Aspekte ins Spiel gebracht. Die ursprüngliche Argumentation wird damit erweitert. Der Sprecher stellt die Gottheiten Afrikas dem Gott seiner gegenwärtigen Umgebung gegenüber. Beide werden mit je einer Eigenschaft beschrieben: der afrikanische Heidengott ist ein Ebenbild seiner Anhänger, der Christengott ist einer, der seinen Anhängern Demut predigt. Der Spre­cher sagt, dass seine Entscheidung, dem Christengott zu folgen, ihn Opfer gekostet habe, ohne genauer auszuführen, worin diese Opfer bestanden. Wir können aber auf der Basis der vorhergehenden Stro­phen und der darin beschriebenen Obsessionen von Trommeln, Regen, Schlangen, Dschungelpaaren und Liebestänzen annehmen, dass die Normen und Konventionen seiner christlichen Umgebung dem Spre­cher manchen Verzicht nahelegen.

Die sechste Strophe gibt uns Hinweise über weitere Opfer. Sie bestätigt, dass die Ablehnung der heid­nischen Götter dem Sprecher alles andere als leicht fiel. Im ersten Satz der Stro­phe sagt der Sprecher dies offen, nachdem er noch einmal die demütige Seite des Christengotts herausgestellt hat. Anschlie­ßend äußert er, die Entscheidung für den Christengott als gegeben hin­neh­mend, den Wunsch, dass der Christengott wenigstens ein schwarzer sein sollte, weil ein schwarzer Gott seinen Schmerz und sein Leid nachempfinden könne. Er setzt den Gedankengang im Rest der Strophe fort, wo er ausführt, wie er sich einen solchen schwarzen Gott vorstellt. Er solle geduldig sein, wo es angebracht sei, aber nicht die andere Wange hinhalten, wenn er ins Gesicht geschlagen werde. Der Sprecher schlägt hier offensichtlich ganz neue Töne an. Das Schwarzsein an sich ist nun das Problem oder vielmehr das, was die Umgebung des Christengotts daraus macht. Der Christengott selbst wird nicht als böse empfunden, aber er ist zu passiv und zu demütig. Er verhindert das Böse nicht.

Die siebente und letzte Strophe ist vollständig kursiv gehalten. Sie enthält die Antwort auf die am An­fang gestellte Frage als Ergebnis der vorangegangenen Erörterungen. Afrika, obwohl hier nicht mehr explizit genannt, ist offensichtlich von größter Bedeutung für den Sprecher. Er kann diesen Ein­fluss nicht ausschalten. Alles, was er tun kann, ist, seinen Stolz zu bändigen und die Ruhe zu bewah­ren. Was sonst passieren könnte, beschreibt er, indem er das Bild der Flut wieder aufgreift und zusätz­lich das Bild des Feuers bemüht. Die Flut würde ihn fortreißen, das Feuer seines verletzten Stolzes ließe einen Wald brennen wie trockenen Flachs und schmelzen wie simples Wachs. Die toten Vorfah­ren würden auf­er­stehen. Die folgenden und letzten drei Zeilen sind dann weniger ein Resümee, als viel­mehr ein zusätz­licher Kommentar zur Antwort. Ist er ironisch gemeint?

Es ist eine Eigenschaft der Ironie, dass wir aus dem Gesagten alleine nicht ableiten können, ob sie vor­liegt. Manchmal hilft es aber, wenn man die Umstände zusätzlich heranzieht. Im Gedicht selbst könnte höchstens die Ambivalenz des Verbs "lie" ein Indiz dafür sein, dass der Sprecher all das nicht so ernst meint, was er über seine schlaflosen Nächte und die Macht seiner Triebe erzählt.

Die meisten von denen, die »Heritage« zu interpretieren oder zu analysieren versuchten, sahen den Spre­cher in einem Zwiespalt, den er nicht unterdrücken kann. Worin dieser Zwiespalt genau besteht, darüber gehen die Meinungen jedoch auseinander. Ronald Sheasby (1995), der auf Parallelen in der formalen Gestaltung von »Heritage« einerseits und William Blakes »Tyger« andererseits hinweist, sieht beide Autoren irrend zwischen rivalisie­renden Göttern bzw. Gesichtern Gottes. Blake zwischen dem Gott, der den Tiger schuf und dem Gott, der dem Lamm zum Dasein verhalf, Cullen zwischen dem Christengott und den heidnischen Göttern Afrikas. Obwohl dies sicher durch den Text belegt ist, ist wohl im Fall von »Heritage« die Götterfrage nur ein Teilaspekt dessen, was den Sprecher umtreibt. Die ersten Strophen mit ihren diversen Hinweisen auf Naturgewalten und sexuelle Obsessionen sind davon nicht abgedeckt. Wenn schon götterbezogen, dann besteht ein Zwiespalt zwischen den Konven­tionen und Normen der christlichen Gesellschaft einerseits und dem vom Sprecher vermuteten sinnli­chen Afrika mit seinen schwarzen Göttern andererseits.

Ähnlich sehen es Peter Powers (2000) und David Kirby (1971). Powers sieht den Sprecher im Konflikt zwischen sozialer Verantwortung und privatem Begehren. Kirby ordnet »Heritage« in direkter Nach­bar­schaft zu Eliots »The Waste Land« ein. Wie dort, gehe es auch in »Heritage« um das Dilemma eines modernen Individuums, das sich seines reichen emotionalen Erbes bewusst ist, aber in eine steri­le, kon­formistische Kultur gestellt ist. Dies ist ein plausibles Urteil auf der Basis der ersten vier Stro­phen des Gedichts. Was diese Autoren aber übergehen, ist der profane Aspekt des Schwarzseins, den der Sprecher in der zweiten Hälfte des Gedichts zur Sprache bringt, wenn er sich einen schwarzen Gott wünscht, der sein Leid nachempfinden kann und ihn verteidigt anstatt die zweite Wange hinzuhalten.

Ist dem noch etwas hinzuzufügen? Ich glaube schon. Eine ganz große Rolle bei der Deutung spielt das Ausmaß an Ironie, das wir dem Sprecher zugestehen. Weil wir, wie oben erwähnt, dieses Ausmaß aus dem Gedicht alleine nicht bestimmen können, müssen wir externe Informationen hinzuziehen. Der Spre­cher des Gedichts ist nicht irgendein Schwarzer, sondern der Schwarze schlechthin. Und der Au­tor, der ihn sprechen lässt, ist ein hochgebildeter Mann mit einem Harvard-Abschluss, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, der ganzen Welt zu zeigen, was die Schwarzen an kulturellen Leistungen her­vor­bringen können. Wird dieser Autor seinen schwarzen Sprecher im Ernst sagen lassen, er sei noch nicht zivili­siert?

Angenommen, der letzte Satz des Gedichts sei ironisch gemeint und die Zweideutigkeit von "So I lie" sei nicht nur zufällig, sondern gewollt. Dies würde die Deutung entscheidend beeinflussen. Der be­hauptete Einfluss der Buschtrommeln, des Regens und der nackten Schlangen auf die Ruhe und die Libido des Sprechers wäre dann nicht nur nicht anzunehmen, sondern würde sich sogar ins Gegenteil verkehren: in eine Verspottung derjenigen weißen Leser, welche von Schwarzen solche Emotionen er­warten. Von dem ganzen Erbe bliebe dann nur die Last des Schwarzseins übrig, die aber kein geneti­sches Erbe ist, sondern ganz und gar von den Weißen aufgebürdet wurde.

Literatur

Cullen, Countee: On These I Stand. An Anthology of the Best Poems of Countee Cullen. New York and London: Harper & Brothers Publishers, 1947

Freimuth, Frank: Wein aus Harlem. Gedichte, englisch-deutsch, von Countee Cullen, Georgia Douglas Johnson, Langston Hughes, Claude McKay, ausgewählt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Freimuth. Hamburg: Verlag tredition, 2018

Kirby, David K.: Countee Cullen's ""Heritage": A Black "Waste Land". South Atlantic Bulletin, Vol 36, No 4, Nov 1971

Locke, Alain: The New Negro. An Interpretation. New York: Albert and Charles Boni, 1925

Powers, Peter: The Singing Man Who Must be Reckoned With: Private Desire and Public Responsibility in the Poetry of Countee Cullen. African American Review 34.4, Winter 2000

Sheasby, Ronald E.: Dual Reality: Echoes of Blake's Tiger in Cullen's Heritage. College Language Associates Journal 39.2, Dec. 1995


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