Mallarmé: Apparition


Stéphane Mallarmé: Apparition

Gedanken zum Gedicht von Frank Freimuth

Apparition

La lune s'attristait. Des séraphins en pleurs,
Rêvant, l'archet aux doigts, dans le calme des fleurs
Vaporeuses, tiraient de mourantes violes
De blancs sanglots glissant sur l'azur des corolles.
- C'était le jour béni de ton premier baiser.
Ma songerie aimant à me martyriser
S'enivrait savamment du parfum de tristesse
Que même sans regret et sans déboire laisse
La cueillaison d'un Rêve au cœur qui l'a cueilli.
J'errais donc, l'œil rivé sur le pavé vieilli,
Quand avec du soleil aux cheveux, dans la rue
Et dans le soir, tu m'es en riant apparue,
Et j'ai cru voir la fée au chapeau de clarté
Qui jadis sur mes beaux sommeils d'enfant gâté
Passait, laissant toujours de ses mains mal fermées
Neiger de blancs bouquets d'étoiles parfumées.


Erscheinung

Der Mond wurde traurig. Weinende Engel im Traum,
die Hand am Bogen und stille Blumen als Saum,
zogen aus Bratschen, die um ihr Leben rangen,
weiße Schluchzer über blaues Blütenprangen.
- Gesegnet war der Tag durch deine ersten Küsse.
Mein Sinnen, geneigt, dass es mich quälen müsse,
berauschte sich geschickt am Duft der Traurigkeit,
den Träume-Ernten, ganz ohne Scham und Bitterkeit,
dem Herzen lässt, das ihm den Traum bescherte.
Ich aber irrte, auf Pflaster, das dem Alter wehrte,
als du, auf der Straße, noch mit Sonne im Haar
mir lachend erschienst, als der Tag müde war,
und ich glaubte, die Fee mit dem Schleier zu sehen,
die pflegte, durch die Träume des Kindes zu wehen,
die duftenden Sterne nur lose fassend
und in weißen Sträußen schneien lassend.

Übersetzung: Frank Freimuth


Anders als viele, die sich das Verseschmieden zum Beruf erkoren, war Stéphane Mallarmé (1842 - 1898) nicht von Existenzsorgen geplagt. Er verdiente sich sein Brot als Englischlehrer am Gymnasium und führte ein unspektakuläres Leben. Spektakulär und neuartig aber war seine Poesie und Mallarmé war ihretwegen in Künstlerkreisen bestens vernetzt. Der Maler Édouard Manet war ein guter Freund von ihm. Ab den achtziger Jahren traf sich Mallarmé in seiner Wohnung in Valvins, nahe Fontainebleau, jeden Dienstag mit vielversprechenden jungen Poeten, darunter zeitweilig auch Stefan George und Paul Valéry.

Was sich bei Baudelaire schon in Ansätzen abzeichnete, dass die Wirklichkeit weitgehend durch bildhafte Metaphern ersetzt wird, dies hat Mallarmé zur Vollendung getrieben. Besonders im Spätwerk Mallarmés haben die Gedichte nur noch eine lose Beziehung zur Realität. Die von ihm gezeichneten Bilder sind rätselhaft und lassen sich vielfach interpretieren. Da er sich im Verlauf seines Schaffens immer mehr von der herkömmlichen Syntax der Sprache löste, ist besonders die Deutung seiner späten Werke immer spekulativ. Bei manchen müssen uns Ahnungen genügen.

Mallarmé verlangt viel von seinen Lesern. Sie sollen bereit sein, viel Zeit bei der Lektüre zu verbringen und sie sollten Lust am Dechiffrieren seiner Bildersprache haben. Versüßt wird diese Fron durch den außergewöhnlichen Klang der Gedichte, zumindest bei denen aus der ersten Hälfte seiner Schaffenszeit. Später, als er immer mehr mit der Syntax experimentierte, ging der Klang seiner Verse, der anfangs dem beruhigenden Plätschern eines Baches ähnelte, in das stockende Selbstgespräch eines Einsiedlers über.

Apparition (Erscheinung) ist ein früh verfasstes (wenn auch spät erschienenes) Werk des Dichters. Wir können es gedanklich in zwei Hauptabschnitte unterteilen. Der erste reicht bis zum Ende der neunten Zeile und ist im französischen Original im Imperfekt gehalten. Der zweite Abschnitt, vom Anfang der zehnten Zeile bis zum Ende, ist im im Perfekt (passé composé) formuliert. Die Zeiten sind deshalb erwähnenswert, weil sie uns etwas über die Funktion dieser Abschnitte sagen. Der erste zeichnet demnach einen Hintergrund, also einen Zustand, während der zweite ein während dieses Zustands eintretendes Ereignis beschreibt.

Im ersten Abschnitt können wir unschwer drei Unterabschnitte ausmachen. Im ersten davon, der sich über die Zeilen eins bis vier erstreckt, wird uns zunächst offenbart, dass der Mond traurig wurde.

La lune s'attristait. Des séraphins en pleurs,
Rêvant, l'archet aux doigts, dans le calme des fleurs
Vaporeuses, tiraient de mourantes violes
De blancs sanglots glissant sur l'azur des corolles.

Dieses Traurigwerden des Mondes, so weiter, sei begleitet gewesen von dem Treiben weinender En­gel, die auf sterbenden Bratschen weiße Schluchzer über blaue Blüten zogen. Ohne dass wir diese rätselhaften Metaphern im einzelnen entschlüsseln müssen, können wir mit einiger Sicherheit konstatieren, dass sich im Sprecher und vielleicht auch um ihn herum eine Stimmung der Traurigkeit ausbreitete. Dass es eher ein Sprecher ist als eine Sprecherin, wird am Ende des Gedichts deutlich werden.

Der zweite Unterabschnitt besteht nur aus der fünften Zeile. In ihr teilt uns der Sprecher mit, dass dieser Tag, also der, an dem der Mond traurig wurde, jener war, an dem ihn eine nicht weiter eingeführte Person, die er mit du anspricht, zum ersten Mal geküsst habe. Ein gesegneter Tag sei dies gewesen. Im französischen Original:

C'était le jour béni de ton premier baiser.

Wie sich später zeigt, ist dieser Satz eine Vorausschau auf den zweiten Hauptabschnitt. Darüber hinaus sagt er uns aber noch einiges über die Verbindung zwischen dem Sprecher und der an­gesprochenen Person: weil es der "erste Kuss" war, hat es an späteren Tagen wohl noch weitere Küsse gegeben, und dass der Tag "gesegnet" war, spricht dafür, dass die Verbindung zwischen den beiden eine glückliche gewesen ist. Sie ist es vielleicht immer noch.

Nach dieser Vorschau wird zunächst der erste Hauptabschnitt mit einem komplizierten und herrlich verschwurbelten Vierzeilensatz abgeschlossen. Dieser sagt uns, vermutlich, dass der Sprecher durch die traurige Stimmung zu trüben Grübeleien angeregt wurde, von denen er sich so schnell nicht lösen konnte.

Ma songerie aimant à me martyriser
S'enivrait savamment du parfum de tristesse
Que même sans regret et sans déboire laisse
La cueillaison d'un Rêve au cœur qui l'a cueilli.

Der nun beginnende zweite Hauptabschnitt besteht nur aus einem einzigen Satz, der sich über sieben Zeilen hinzieht. In ihm findet das eigentliche Geschehen statt, nämlich das Erscheinen der angesprochenen Person.

J'errais donc, l'œil rivé sur le pavé vieilli,
Quand avec du soleil aux cheveux, dans la rue
Et dans le soir, tu m'es en riant apparue,
Et j'ai cru voir la fée au chapeau de clarté
Qui jadis sur mes beaux sommeils d'enfant gâté
Passait, laissant toujours de ses mains mal fermées
Neiger de blancs bouquets d'étoiles parfumées.

Dieses Erscheinen ent­spricht noch nicht der Erscheinung, von der im Titel die Rede ist, aber es ist mit dieser direkt verbunden. Bis es aber soweit ist, ist der Sprecher noch ganz in seinen Grübeleien gefangen. Er irrt herum, auf das alte Pflaster des Gehsteigs oder der Straße starrend, als ihm die Person begegnet, von der in der fünften Zeile schon die Rede war. Über ihr Wesen und ihr Aussehen erfahren wir wenig, nur dass die Sonne auf ihr Haar schien und dass sie lachte. Sehr viel erfahren wir dagegen über das, was sie beim Sprecher auslöste. Dies ist die eigentliche Erscheinung. Er glaubt, die Fee aus den Träumen seiner sorglosen und behüteten Kindheit zu sehen - die Fee, die Sterne wie weiße Blumen auf ihn herniederschneien ließ.

Wir können das grobe Geschehen in dem offensichtlichen Sinne deuten. Ein Mann, der Sprecher, hat eine zu ihm passende Frau gewonnen und dadurch seine Lebensumstände erheblich und dauerhaft verbessert. Auch andere Deutungen sind möglich, weil im Gedicht die Relation zwischen Sprecher und Angesprochener so gut wie nicht spezifiziert ist. Selbst die Feststellung, dass die angesprochene Person den Sprecher geküsst hat, reicht nicht aus, die Verbindung zwischen den beiden eindeutig als Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau einzuordnen. Bei den Küssen könnte es sich zum Beispiel auch um Musenküsse gehandelt haben. Die Beziehung wäre dann eine zwischen dem Sprecher und seiner Muse bzw. seiner Kunst.

© Frank Freimuth


Diese Anmerkungen stehen hier (einschließlich der Übersetzung auch zum Download bereit:


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