Über die Rätselhaftigkeit und die Unverständlichkeit von Gedichten 1


1   Begriffe und Vorausschau

Mit rätselhaft möchte ich ein Gedicht bezeichnen, das sich dem unmittelbaren Verstehen durch den Leser widersetzt. Dieser muss rätseln, muss nachdenken, um sich den Sinn zu erschließen. Darin ähnelt ein solches Gedicht einem Kreuzworträtsel. Weit trägt allerdings die Analogie zwischen Gedicht und Kreuzworträtsel nicht, denn anders als beim Kreuzworträtsel gibt es bei den Rätseln der Poesie selten eine eindeutige Lösung und schon gar nicht eine Auflösung.

Eine andere Bezeichnung, die im Zusammenhang mit Gedichten oft verwendet wird, ist "dunkel". Aber diese Charakterisierung unterscheidet nicht, ob das betreffende Gedicht rätselhaft ist oder unverständlich. Sie bringt also keinen Zugewinn und wir können gut darauf verzichten, genauso wie auf die Charakterisierung eines unzugänglichen Gedichts als "komplex". Der Begriff der Kom­plexität, der u.a. in der Mathematik und in der Informatik verwendet wird und dort exakt definiert ist, ist dies in der Literaturwissenschaft leider nicht. Er taugt also bestenfalls dazu, ein wissen­schaft­liches Herangehen vorzugaukeln.

Ein rätselhaftes Gedicht ist etwas anderes als ein unverständliches. Rätselhaftes kann man mit Geduld und einigem Geschick vielleicht enträtseln, während Unverständliches immer unverständlich bleiben wird. Oft ist es nicht einfach, bei einem Gedicht, das einem Rätsel aufgibt, zu entscheiden, ob es nur rätselhaft oder ob es unverständlich ist. So manchen Freund der Poesie hat schon die Frustration gepackt, wenn er einem Gedicht auch nach Stunden des Rätselns keinen rechten Sinn abgewinnen konnte, ja nicht einmal sagen konnte, ob es einen Sinn darin gab.

Die Unverständlichkeit ist das Gegenteil der Verständlichkeit. Wir wollen vernachlässigen, dass es verschiedene Tiefen des Verstehens geben kann und damit auch verschiedene Grade des Nichtverstehens. Stattdessen soll hier einfach jedes Gedicht als unverständlich bezeichnet werden, für das auch ein aufmerksamer und bemühter Leser keine sinnvolle Deutung finden kann.

Lohnt es sich überhaupt, an etwas Rätselhaftem herumzurätseln und Unverständliches zu lesen oder anzuhören? Die Antwort fällt mir leicht: Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, ob sich der rätselhafte oder unvollständige Text mit den sonstigen Eigenschaften des Gedichts, insbesondere seinem Klang und seiner Sprache, zu einem Kunstwerk verbindet.

Um es klar zu machen: Ein gutes rätselhaftes oder unverständliches Gedicht ist nicht trotz der Rätselhaftigkeit oder Unverständlichkeit gut, sondern weil es so ist. Aber kein Gedicht ist nur deshalb gut, weil es rätselhaft oder unverständlich ist. Dass die Unverständlichkeit alleine etwas Gutes sei - dies ist ein Missverständnis, das uns schon viele trostlose Wortsalate beschert hat.

Ich möchte in den folgenden Beiträgen auf zwei Fragen eingehen, die sich im Zusammenhang mit solchen Gedichten stellen:

  • Wodurch, d.h. durch welche sprachlichen Mittel, geraten Gedichte rätselhaft oder unverständlich?
  • Was können Rätselhaftigkeit und Unverständlichkeit beim Leser bewirken? Damit hängt die weiterführende Frage zusammen: Weshalb sollten wir solche Gedichte lesen?

Es folgt nun zunächst ein Überblick über die Mittel der Textgestaltung, welche zu Rätselhaftigkeit oder Unverständlichkeit führen. Anschließend werde ich die Anwendung dieser Mittel an konkreten Beispielen erläutern.

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