Ernest Dowsons Autumnal


Ernest Dowsons Autumnal - gedämpfte Wehmut im Herbst des Lebens

von Frank Freimuth, Mai 2021

Auch Autumnal (Herbstlich) ist eines jener für Dowson typischen Zwiegesprächsgedichte, die eigentlich Monologe sind. Was aber Autumnal von den ähnlich angelegten Cynara, Flos Lunae und Seraphita unterscheidet, ist die räumliche Nähe des Sprechers zur Gesprächspartnerin. Dass die sprechende Person ein Mann ist und die angesprochene eine Frau, wollen wir der Einfachheit halber annehmen. Zwingend ist diese Annahme nicht. Sicher ist nur, dass sprechende und angesprochene Person ein in Liebe verbun­denes Paar sind. Man gewinnt beim Lesen des Monologs den Eindruck, dass dieses Paar an einem sonni­gen Tag im Spätherbst auf einer Bank in reizvoller Umgebung sitzt. Der Sprecher könnte den Arm um seine Begleiterin gelegt haben. Ob er seinen Monolog laut oder nur in Gedanken vorträgt, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wahrscheinlicher ist aber letzteres, weil die Partnerin kein einziges Mal zu Wort kommt.

Obwohl die Ausführungen des Sprechers sich vordergründig auf das reizvolle Umfeld beziehen, hat man niemals den Eindruck, er habe die Person an seiner Seite vergessen. Seine Worte sind nämlich voll von Symbolen, die sich auf die Liebesbeziehung der beiden beziehen. Bei mehreren Gelegenheiten schlägt der Sprecher sogar explizit die Brücke zwischen den Erscheinungen der Natur und dieser Bezie­hung. An keiner Stelle kommt die symbolische Beschreibung der Natur durch den Sprecher ohne Vorbe­halte aus. Schon in der ersten Strophe verweist er, während er den wundervollen Spätherbst mit seinem bernsteinfarbenen Sonnenlicht und den sich rötenden Bäumen preist, auf den zurückliegenden Sommer. Wie dieser Sommer sei die milde Brise, in der sich die Oktoberbäume nur leicht bewegten, und an so schönen Tagen wie diesem müsse man sich nicht groß über seinen Abgang bekümmern. Dass der Spre­cher in diesem Satz die neben ihm Sitzende mit "Liebste" (dear) anspricht, lässt uns vermuten, dass die Beziehung von tiefen Gefühlen getragen wird.

1
Pale amber sunlight falls across
The reddening October trees,
That hardly sway before a breeze
As soft as summer: summer's loss
Seems little, dear! on days like these.

Strophe 2 beginnt mit einer Aufforderung, die der Sprecher an sich und seine Partnerin richtet: Sie soll­ten sich doch den diesigen Herbst zueigen machen, also seine beeindruckende Schönheit genießen und ganz in der Gegenwart leben. Er setzt dann noch kurz das in Strophe 1 begonnene Loblied auf den Herbst mit dem Hinweis fort, dass diese "Dämmerung des Jahres" eine milde sei. Anschließend greift er das Wort "Dämmerung" noch einmal auf, um eine Brücke zu der Liebe des Paares zu schlagen. Diese Liebe, sagt er, die eine Dämmerung des Herzens sei, verberge ein wenig den Betrug der Zeit. Wir haben in dieser Aussage gleich zwei schwierige Metaphern zu entschlüsseln. Mit dem "Betrug der Zeit" meint der Sprecher wohl den vorher von ihm so gepriesenen Herbst, der mit seiner Milde und Schönheit über das unvermeidliche Kommen des kalten Winters hinwegtäuscht. Natürlich ist sich auch das Paar dieser Täuschung bewusst. Jedoch kann die Liebe den Partnern helfen, dieses Bewusstsein noch ein wenig zu unterdrücken und quasi ein Pflaster auf die sonst offene Wunde zu kleben. Was aber macht die Liebe des Paares zu einer "Dämmerung des Herzens"? Analoges Schließen bringt uns weiter. So wie der Herbst nur eine letzte Zwischenstation auf dem Weg zum Winter ist, so ist diese Liebe nur eine Zwi­schenphase, welche die Herzen vor ihrem letzten Schlag durchlaufen. Es handelt sich demnach wohl um eine späte oder reife Liebe.

2
Let misty autumn be our part!
The twilight of the year is sweet:
Where shadow and the darkness meet
Our love, a twilight of the heart
Eludes a little time's deceit.

In der dritten Strophe ist viel vom Traum die Rede. Gleich dreimal kommt das Wort dort vor, wenngleich nicht immer in derselben Bedeutung. Die Strophe beginnt mit einer Frage des Sprechers an die Partnerin. Ob sie beide nicht besser im traumerfüllten Herbst aufgehoben seien, da sie doch "kein Ernteglück eines Traumes wert" erachteten? Die Art der Fragestellung legt nahe, dass sich der Sprecher der zustimmen­den Antwort sicher ist. Außerdem gibt uns die Frage eine metaphorische Information über die Lebens­einstellung des Paares. Dass ihm kein Ernteglück einen Traum wert ist, ist wohl eine poetische Formu­lierung dafür, dass den beiden das Streben nach weltlichen Gütern und Erfolg nichts bedeutet. Bedenkt man, wie sehr sich das Paar der Kürze der Lebenszeit bewusst ist, dann erscheint diese Einstellung nur konsequent. Auch der Gedanke, dass der Herbst für sie die ideale Zeit sei, kann aus dieser Haltung abgeleitet werden. Denn Frühjahr und Sommer sind die Jahreszeiten, in denen gesät wird und die Felder bestellt werden. Wer keinen Wert auf die Ernte legt, zieht auch keinen Nutzen aus Säen und Feldarbeit. Wer nicht auf Reichtum und Erfolg aus ist, der muss nicht Frühjahr und Sommer seines Lebens zum Feilen an der Karriere nutzen.

Natürlich kann der Sprecher nicht meinen, man könne Frühling und Sommer einfach überspringen. Das gilt sowohl für die Jahreszeiten als auch für die entsprechenden Phasen des Lebens. Wie in Strophe 2 bereits bemerkt, befindet sich das Paar schon im fortgeschrittenen Alter. Der Sprecher meint offen­sichtlich, dass es gar nicht schlimm für sie beide sei, dieses Alter bereits erreicht zu haben, weil das Streben nach Erfolg, das die jüngeren Lebensalter auszeichnet, niemals ihre Sache gewesen ist.

Der Satz in den letzten beiden Zeilen der Strophe ist eine metaphorische Vorschau auf das Lebens­ende. Es werde nicht viel Zeit vergehen, bis die Nacht hereinbrechen werde, so der Sprecher, und dann sei Zeit zum Träumen. Dieser Gebrauch des Wortes "dream" für die Zeit nach dem Tod ist derselbe wie in They are not long, einem themenverwandten Gedicht Dowsons aus dem Album Verses. Dort heißt es in der zweiten Strophe, dass der Weg des Menschen in einem Traum beginne und in einem anderen ende.

3
Are we not better and at home
In dreamful Autumn, we who deem
No harvest joy is worth a dream?
A little while and night shall come,
A little while, then, let us dream.

Strophe 4 beginnt mit dem Hinweis, dass hinter dem perlenfarbenen Horizont bereits der Winter und die Nacht bereitlägen. Dass diese Feststellung eine symbolische ist, merken wir an der Vermengung der Dimensionen. Die Zeiten Winter und Nacht liegen hinter einem Ort, dem Horizont. Die Reihenfolge (erst Winter, dann Nacht) ist wichtig und Teil der Symbolik. Da der Winter sich durch Kälte auszeichnet, symbolisiert er eine Lebensphase, in der die Wärme der Liebe schon verloren gegangen ist, entweder, weil ein Partner bereits gestorben ist, oder weil beide so hinfällig und krank sind, dass sie sich nicht mehr am gemeinsamen Leben erfreuen können. Die Nacht ist, wie schon in der dritten Strophe, ein Symbol für den Tod und die Zeit danach.

Der hinter dem Doppelpunkt angefügte Satz resümiert noch einmal die Situation des Paars und die Konsequenz, die sie daraus ziehen. Bereits für November, also schon in naher Zukunft, sieht der Spre­cher das Ende der Liebe voraus, und er bestätigt damit noch einmal, dass die Liebenden sich des nahen Lebensendes bewusst sind. Mit dem Leben wird auch die Liebe zu Ende gehen. Aber in der Zeit davor wollen sie die Erinnerung an die Leichtigkeit des wundervollen, aber kurzen Herbsttags wach halten.

4
Beyond the pearled horizons lie
Winter and night: awaiting these
We garner this poor hour of ease,
Until love turn from us and die
Beneath the drear November trees.

Übersieht man die Hinweise auf das nahe Lebensende, dann könnte man versucht sein, das Gedicht als ein Manifest der Unbeständigkeit menschlicher Beziehungen zu deuten. Wir würden dann annehmen müssen, dass das Paar selbst an einem Tag, an dem das Bewusstsein der Verbundenheit nicht enger sein könnte, aus Zweifel an der eigenen Beständigkeit bereits das Ende der Liebe befürchtet. Falls es so wäre, sollten wir darüber nicht den Stab brechen! Aber tatsächlich beschreibt das Gedicht genau das Gegenteil. Die Liebe des Paares muss zu Ende gehen, weil das Leben zu Ende geht.

Dass es sich bei Autumnal trotzdem nicht um eines jener trostlosen Klagelieder handelt, von denen es in der Lyrik schon so viele gibt, liegt daran, dass das Paar das Beste aus der vorgezeichneten Entwick­lung machen will. Der Herbst des Lebens wird, weil mit der eigenen Einstellung im Einklang, zur besten Lebensphase erkoren und akzeptiert. Die schönen, aber vergänglichen Herbsttage werden in der Erinne­rung gespeichert, damit auch das hohe Alter noch Wärme bereithalten kann. Das anschließende Jenseits ist kein Nichts, sondern ein Traum. Wir haben hier ein Paar in Wehmut, sicherlich, aber es ist eine gedämpfte Wehmut.


Herbstlich

Gelbbraune Sonne fällt auf diesen Ort:
Oktoberbäume, die in Rötung übergehen
und die kaum schwanken, wenn die Winde wehen,
sanft wie der Sommer. Geht er nun fort,
scheint uns dies nichtig, Liebes, wenn wir Solches sehen.

Der Herbst sei unser, seine Nebelsicht,
die Jahresdämmerung in ihrer Lieblichkeit:
Wo sich der Schatten eint mit Dunkelheit,
tarnt unsere Liebe, ein Herzensdämmerlicht,
ein kleines bisschen den Betrug der Zeit.

Sind wir nicht heimisch und viel besser dran
im traumerfüllten Herbst, die wir befinden,
nie traumeswertes Ernteglück zu finden?
Ein wenig noch, dann kommt die Nacht heran,
ein wenig noch, dann lass uns Träume winden.

Jenseits des Perlenhorizontes liegen
der Winter und die Nacht: sind sie bereit,
bewahren wir der kurzen Stunde Leichtigkeit,
bevor die Liebe weicht und unter trüben
Novemberbäumen geht für alle Zeit.

Ernest Dowson, Übersetzung Frank Freimuth


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